Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

„Wissenschaft“ in Burnhams Stil

Der folgende Artikel (im Original „Science – Burnham’s Style“) von Jean van Heijenoort (unter dem Pseudonym Jarvis Gerland) ist übersetzt aus Fourth International Bd. 1, Nr. 2, Juni 1940. Anmerkungen von Ergebnisse & Perspektiven sind in eckige Klammern gesetzt.

Bei seiner Zurückweisung der Position der Vierten Internationale über den Klassencharakter des Sowjetstaats ging Burnham, ob er wollte oder nicht, zu einer allgemeinen Offensive gegen die Grundlagen des Marxismus selbst über. Ein solcher Angriff leidet an Altersschwäche, aber Burnham1 schlägt in seinem Artikel „Wissenschaft und Stil“ vor, ihn mit Hilfe der „Wissenschaft“ zu „modernisieren“.

Es bereitet kein Vergnügen, diesen Artikel zu diskutieren. Der Widerwille, den man überwinden muss, um den Artikel zu lesen, wird schnell durch Langeweile verdrängt – diese so viele Male wiedergekäuten Binsenweisheiten werden mit der Zeit nicht besser. Der Artikel enthält nichts, was nicht wieder und wieder von allen Lästerern des Marxismus, Experten wie Laien, gesagt worden wäre. Die abgedroschensten Argumente, die abgegriffensten Vergleiche, all das Gewäsch, das sogar in den Kleinstadt-Zeitungen verbreitet wird, sind hier versammelt und werden als die neueste Errungenschaft der Wissenschaft durch einen von allen Vorurteilen befreiten Geist präsentiert. Es ist wahr, dass er bei ein paar Fetzen noch nicht gewagt hat, sie in ihrer ganzen Verdrecktheit zu zeigen; wir sehen nur ihre Fransen. Viele Argumente brechen plötzlich ab und zeigen noch nicht alles, was in Reserve ist. Gemeinheit und Eingebildetheit sind mit einem gehörigen Schuss Scheinheiligkeit vermischt. So erklärt Burnham in seinem Angriff gegen Trotzki: „Bei der Darstellung deines zentralen Arguments bin ich gewissenhaft und gerecht vorgegangen.“ Diese „gewissenhafte Gerechtigkeit“ hat, wie wir hier sehen werden, den gleichen Wert wie die seiner Vorgänger – sie hat starke Ähnlichkeit mit gewissenloser Ungerechtigkeit.

Eine der ersten Aussagen, die in dem Dokument Trotzki zugeschrieben werden, ist folgende: „Aus dem dialektischen Materialismus folgt, dass die Marxsche Soziologie, insbesondere die Marxsche Theorie des Staates, wahr ist.“ Der Ausdruck „[es] folgt, dass“ wird von Burnham selbst hervorgehoben, der nicht den geringsten Zweifel an seiner Bekräftigung aufkommen lassen möchte. Um die Zuschreibung einer solchen Behauptung zu seinem Gegner zu rechtfertigen, gibt es auf der Seite, von der obiger Satz entnommen wurde, tatsächlich das kleine Wort „daher“.2 Das ist ziemlich dünn. Was die „Beweise“ angeht, die Burnham mit solcher Prahlerei angekündigt hat („Belege, Argumente, Beweise: das allein sind meine Waffen.“): Seine „Gewissenhaftigkeit“ hat es ihm erlaubt, darauf zu verzichten.

In Wirklichkeit ist eine solche Aussage dem Marxismus sowohl dem Geist als auch dem Buchstaben nach fremd. Hat Marx das Kapital aus ein paar logischen oder metaphysischen Prinzipien abgeleitet, die am Anfang des ersten Kapitels angeheftet sind? Hat er sein Werk mit nichts weiter als einer abstrakten Darstellung seiner dialektischen und materialistischen „Prinzipien“ begonnen? Wenn dem so wäre, warum verbrachte er dann seine Zeit mit Forschung unter Tausenden ökonomischen Veröffentlichungen aus der ganzen Welt, um eine außerordentliche Gelehrtheit anzuhäufen? Burnham unterstellt Trotzki ebenso unbegründet eine zweite, analoge Behauptung: „Aus der Marxschen Theorie des Staates folgt es, dass Russland ein Arbeiterstaat ist.“ Wenn das wahr wäre, warum verlor die Linke Opposition ab 1923 ihre Zeit damit, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen der UdSSR zu analysieren? Wir haben, so scheint mir, eine beträchtliche Menge an Dokumenten und Büchern zu diesem Thema hervorgebracht. Wenn unsere Methode die wäre, die Burnham uns – so „gewissenhaft“ – vorwirft, hätten wir es dabei bewenden lassen sollen, unsere Schlussfolgerungen in ein paar Zeilen, notfalls in Form eines vollendeten Syllogismus, festzuhalten.

Doch darüber hinaus hat der Marxismus diese Interpretation seiner Methode bereits ausdrücklich widerlegt. Burnham hat das Recht, wenn er will, Engels als altmodischen reaktionären Prediger anzusehen (diese pauschale Anschuldigung wird übrigens ohne den geringsten Beweis hingeworfen), doch vielleicht wird er ihn als jemanden anerkennen, der Marx’ Gedanken gewissenhaft wiedergegeben hat. Doch Engels hatte vor mehr als siebzig Jahren, in Antwort auf den Burnham seiner Zeit, nämlich den in grandioserem Stil daherkommenden Eugen Dühring, Gelegenheit, genau die Anschuldigung zu untersuchen, die der Dühring von heute als das Ergebnis der neuesten Wissenschaft darstellt. Engels zitiert3 einen langen Abschnitt aus einer Schrift des deutschen Professors, die es im Tiefsinn ihrer Wissenschaftlichkeit und der Schönheit ihres Stils ebenso wie in ihrer gewissenhaften Gerechtigkeit mit der von Burnhams Dokument aufnehmen kann. Dühring warf Marx vor, die Notwendigkeit der Expropriation der Expropriateure aus einem logischen Gesetz, der Negation der Negation, abgeleitet zu haben. Engels hatte keine Mühe, diese Absurdität zu widerlegen; er zitierte einfach den Abschnitt, wo Marx dieses Problem analysiert.

Warum serviert uns Burnham diesen uralten aufgewärmten Brei? Das liegt daran, dass er und Dühring die gleiche Vorstellung von Logik haben, und beide schreiben auf gleiche Weise diese Vorstellung dem Marxismus zu. Ihr Denken geht nicht über ein sehr formales Verständnis der Dialektik hinaus, und diese Dialektik ist es, die sie vernichten! Wir zeigen ihnen ein lebendiges Wesen, sie töten es und schreien: „Haben wir es doch gesagt: Es ist nichts als eine Leiche!“

Sie sehen Logik als etwas, das vor allem aus einigen Prinzipien besteht, die außerhalb der Erkenntnis stehen und dieser vorausgehen. Aus diesen Prinzipien folgt Erkenntnis. Das entwickelt Burnham, wenn er in seinem Dokument von der Funktion der Logik spricht. Für ihn reduziert sie sich auf eine Form, aus der das Denken nicht entkommen kann. Vom Inhalt des Wissens getrennt, kann Logik nichts weiter als eine negative Rolle spielen. Die Form wird zu einer simplen Sperre; Prinzipien, das Geländer zum Festhalten. Burnham sagt uns, dass Logik ziemlich nutzlos sei. Wir stimmen ihm zu, sofern es um solche Logik geht, also seine, nicht unsere.

Dialektische Logik bedeutet nicht die Ufer, zwischen denen der Fluss der Erkenntnis fließt. Sie durchdringt die Erkenntnis selbst in all ihren unterschiedlichen Tiefen. Sie kann nicht leben, außer in diesem Fluss, sie existiert nicht außer in ihm. Wenn man die Logik aus dem Fluss herauszwingt, negiert sie sich selbst und zerfällt in ein paar einschränkende, abstrakte und sterile Prinzipien. Weit davon entfernt, die Erkenntnis von außen zu beherrschen, erneuert sie sich unaufhörlich in ihr. Hegel bemerkte einmal: „Die Form des Denkens verdient es mehr als jede andere Form, erneuert zu werden.“4 Die Philister reduzieren Hegels Methode oftmals auf die eintönige Wiederholung eines dreiteiligen Schemas: These, Antithese, Synthese. Mit dieser Karikatur entblößen sie nichts anderes als die Vorstellung, über die sie selbst nicht hinausgehen können: Für Hegel verleiht jeder Bereich der Wirklichkeit dem Widerspruch und der Synthese einen spezifisch bestimmten Charakter. In einer oftmals mystischen Form bringt er hier eine tiefgründig materialistische Vorstellung zum Ausdruck. Die Dialektik lässt sich nicht auf ein paar isolierte Gesetze reduzieren; das ist nicht die geringste der Schwierigkeiten bei ihrer Systematisierung.

Weit davon entfernt, sich in eine von außen vorgegebene Form zu ergießen oder seine Grenzen in einer solchen Form auszudrücken, wird die Entwicklungsweise des Denkens durch seinen Inhalt bestimmt. Die Vorstellung von etwas, das außerhalb der Erkenntnis liegt und ihr vorausgeht, ist gerade das wesentlichste Merkmal von Scholastizismus. Burnham kann sich von dieser Vorstellung nicht frei machen, und im Streben nach dem neuesten Modernismus greift er auf diesen angestaubten Abfall zurück, wenn er vorschlägt, Hegel durch Russell und die Dialektik durch symbolische Logik zu ersetzen.

Symbolische Logik ist der allgemeine Name für eine Sammlung an Arbeiten, die sich überwiegend seit dem Ende des ersten Drittels des letzten [d.h. des 19.] Jahrhunderts entwickelt haben.

Obwohl ich viele Dutzende Zitate von deutschen, angelsächsischen und französischen Mathematikern und Logikern ab der Mitte des letzten [19.] Jahrhunderts zur Hand habe,5 werde ich hier nur die allgemeinen Schlussfolgerungen dieser Schule andeuten, ohne in eine detaillierte technische Analyse einzusteigen. Burnham selbst bietet keine Beschreibung dieser Strömung, außer ein paar sehr schmeichelhafte, aber rein subjektive Adjektive auszusprechen.

Die Handwerker dieser Bewegung sind zum Großteil Mathematiker und Halb-Mathematiker. Ihre wesentlichen Merkmale sind die Verwendung von Symbolen ähnlich denen der Algebra, um den Inhalt des Denkens – Vorstellungen oder Beziehungen – darzustellen, und die deduktive Verknüpfung dieser Symbole gemäß einiger weniger formaler Regeln, um alle möglichen, das heißt widerspruchsfreien Behauptungen zu bestimmen. Dieses logische Kalkül treibt einfach eine in der Mathematik seit ihren Ursprüngen tief verankerte Tendenz ins Extreme: die deduktive, den Gesetzen der formalen Logik entsprechende Form und die fortwährende Verringerung der Anzahl an Axiomen, die als Ausgangspunkt dienen. Deshalb, weil sie eben nichts weiter darstellt als die Verstärkung einer ihrer Tendenzen, würde die Mathematik ein großes Risiko eingehen, wenn sie sich völlig auf diesen Weg beschränken würde: die Gefahr, ihre Lebenskraft zu verlieren. Alle großen Mathematiker, einschließlich derer, für die symbolische Logik eine Sucht ist, sind sich in diesem Punkt einig, und viele von ihnen gestehen sogar in ihrem eigenen Fachgebiet der symbolischen Logik nur einen sehr eingeschränkten Wert zu. Es scheint jedoch, dass sie auf diesem Gebiet definitiv ihr Existenzrecht erworben hat, und soweit es die Mathematik betrifft, stellt die symbolische Logik eine, wenn auch nur relative, Errungenschaft der Wissenschaft dar.

Wenn wir das Gebiet der Logik betreten, ändert sich die Lage vollständig. Hier nimmt die symbolische Logik eine völlig rückschrittliche Rolle an.

Alle Logiker dieser Schule gehen von den drei „grundlegenden Gesetzen“ des Denkens6 aus, „von denen wir genauso wenig abweichen können, wie wir über unseren eigenen Schatten springen können“ – die Prinzipien der Identität, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Die Meister der symbolischen Logik wagen nicht, über diese Prinzipien zu diskutieren, oder auch nur ihren Inhalt zu präzisieren. Oftmals übernehmen sie sie stillschweigend, unter dem Deckmantel, ein algebraisches Symbol zu definieren. Wenn sie ihre Einführung in das System doch diskutieren, dann nur, um das Etikett „offensichtlich“ daran zu hängen (insbesondere Russell und Whitehead). Wie armselig, engstirnig und reaktionär eine solche Vorstellung im Vergleich zu der eines Hegel erscheint! Das sieht man schon, wenn man die Seiten liest (Burnham braucht nicht vor Angst zurückschrecken – nicht ihm gebe ich diesen Rat), wo Hegel, am Anfang des zweiten Buches seiner Wissenschaft der Logik,7 die berühmten Prinzipien untersucht, ihre Grenzen und Widersprüche aufzeigt. In diesen zehn oder fünfzehn Seiten steckt mehr Wissenschaft – echte Wissenschaft und nicht nur fruchtloser Formalismus – als in den ganzen drei dicken Bänden der Principia Mathematica.

Ist erst einmal zugestanden, dass die drei „grundlegenden Gesetze“ das Spiel bestimmen, dann bleibt nichts weiter übrig, als in algebraischer Form durch gültige Regeln alle widerspruchsfreien Kombinationen zu ermitteln, die daraus folgen. Die Zielsetzung des logischen Kalküls könnte in ihrer ganzen Allgemeinheit folgendermaßen definiert werden: alle Behauptungen zu ermitteln, die mit den drei grundlegenden Prinzipien des Denkens in Einklang stehen. Die Wissenschaft sieht sich auf einen gewaltigen Formalismus reduziert. Danach bleibt nichts übrig außer einer zweitrangigen Aufgabe: zu schauen, ob alle als möglich festgestellten Kombinationen auch in der Natur existieren. Doch wenn keine dieser Möglichkeiten existiert, findet das Sein immer noch ein Schlupfloch im unermesslichen Gewirr der Möglichkeiten.

Insofern das Denken die Wirklichkeit in Rahmen fasst, die außerhalb und unabhängig von ihr konstruiert wurden, erscheint die symbolische Logik als riesiger Scholastizismus. Das stellt keine Erweiterung der Macht der Vernunft dar, sondern ihren Verfall und ihre Erniedrigung. Insbesondere Russells Wissenschaft der Kombinationen zielt darauf ab, den menschlichen Verstand bei allem, was mit Logik oder Mathematik zu tun, absolut nutzlos zu machen. Vor Russell konstruierte ein anderer Logiker der gleichen Sorte, Stanley Jevons, eine Art Klavier mit einundzwanzig Tasten, das die verschiedenen Kombinationen von Ausdrücken klassifizierte, auswählte und zurückwies und schließlich die widerspruchsfreien Aussagen anzeigte. Ist es nötig hinzuzufügen, dass dieser Neo-Scholastizismus in die entgegengesetzte Richtung strebt wie die Entwicklung des menschlichen Denkens? Die Wissenschaft zwingt die Natur nicht in ein System von vorher festgelegten Abteilungen. Erkenntnis ist Aktivität und Kampf; nicht passives Nachsinnen, sondern ein leidenschaftlicher Diskurs zwischen Mensch und Natur. So antwortet die Natur, wo der Mensch Einheit und Stetigkeit verkündet, mit Vielfalt und Sprunghaftigkeit; wo er Vielfalt sagt, antwortet sie mit Einheit. Die Erkenntnis schreitet nicht voran, außer durch diese unaufhörliche Dialektik. Denken, insofern es Durchdringung, Erfindung und Ausweitung ist, erscheint wesentlich als Aktion, Bewegung und ein Über-sich-hinaus-Gehen, und ist in keiner Weise auf den erniedrigenden Automatismus eines Systems von geordneten Etiketten und Hebeln reduzierbar.

Die Spezialisten der logischen Algebra stellen häufig eine revolutionäre Aura zur Schau, indem sie mit Flüchen über Aristoteles’ Logik um sich werfen. Doch selbst da ist ihr Fortschritt ziemlich eingeschränkt. Aristoteles’ Logik bestand in der Katalogisierung einer gewissen Anzahl an Denkformen, genau wie er einige Hundert Vögel gemäß externer Beobachtungen katalogisierte. Die symbolische Logik wiederum geht von ein paar Prinzipien aus und leitet aus ihnen alle widerspruchsfreien Kombinationen ab. Doch das bringt sie nicht viel weiter. So entdeckte der deutsche Mathematiker Hilbert nach mühseliger Berechnung die fünfzehn Formen des Syllogismus wieder, die Aristoteles bereits aufgezählt hatte. Durch ihre blinde Übernahme der drei Prinzipien als Ausgangspunkt bleibt die symbolische Logik ein Teil der formalen Logik, gewiss die am weitesten entwickelte und die systematischste, aber datiert auf 2300 Jahre nach Aristoteles!

Eine Veranschaulichung ist angebracht. Betrachten wir die Aussagen der aristotelischen Logik als Bausteine mit regelmäßigen und wohldefinierten Formen. Der Syllogismus ist die einfachste mögliche Konstruktion mit drei Steinen: zwei Steine nebeneinander und ein dritter auf ihnen liegend. Jedes makellose Beispiel von Schlussfolgerungen wird durch die Wiederholung dieser grundlegenden Anordnung erweitert, genau wie ein Maurer eine Mauer errichtet. Aristoteles’ Logik ist ein Katalog der verschiedenen Mosaike, die im menschlichen Verstand erscheinen. Die symbolische Logik stellt sich eine andere Aufgabe: durch Schlussfolgerungen alle Anordnungen herzuleiten, die mit einer bestimmten Form von Baustein möglich sind. In diesem Sinne geht sie über Aristoteles’ Logik hinaus. Doch sie behält das Mauerwerk mit seinen drei Beziehungen bei, also die drei „grundlegenden Gesetze“ des Denkens. Die Dialektik verwirft das Mauerwerk und folgt der Bewegung einer lebendigen Wirklichkeit. Sie nimmt keine a priori aufgezwungene Form zum Ausgangspunkt, sondern viel grundlegendere Eigenschaften der Materie, wie Widerstand, Dehnbarkeit, Zusammenhalt. Nebenbei zeigt sie, dass die Form und die Größe der Bausteine selbst in letzter Hinsicht durch ihre wesentlichen Eigenschaften bestimmt sind, genau wie Hegel aufzeigte, dass die „drei Gesetze“ der formalen Logik eine bestimmte Stufe der Entwicklung des Denkens darstellen.

Die formale Logik ist vor allem die Logik der Definition und Klassifikation. Ihre Bedeutung in vielen Bereichen ist nicht zu leugnen, insbesondere in den Anfängen der Wissenschaft. Ihre Gesetze gelten für die unveränderlichen und eindeutigen Dinge. Alle moderne Wissenschaft führt die menschliche Erkenntnis jedoch in eine andere Richtung: die Entwicklung und Verbundenheit der Dinge. Die Hegelsche Dialektik gab diesen grundlegenden Dingen ihren logischen Ausdruck. Darum wird Hegels Name in den Annalen der Wissenschaft erhalten bleiben, während der vieler anderer vergessen werden wird. Die symbolische Logik systematisiert die aristotelische Logik tatsächlich, doch sie beruht vollständig auf der selben Grundlage: Unbeweglichkeit und die vollständige Trennung der Kategorien. Sie bleibt daher hinter Problemen, die die Dialektik aufgeworfen und für die sie die ersten Lösungen erbracht hat, beträchtlich zurück. Jede fortschrittliche Arbeit in der Logik muss von der Hegelschen Logik ausgehen, um sie von ihrem Mystizismus zu reinigen und sie zu entwickeln. Auf Grund tiefgreifender gesellschaftlicher Ursachen ist diese Aufgabe der zeitgenössischen Wissenschaft zutiefst zuwider. Hegels Logik war ein Kind der Französischen Revolution. Der Sozialismus wird die Dialektik zu neuen Höhen erheben.

Wir haben das Problem der symbolischen Logik als den einzigen Punkt untersucht, in dem Burnhams Dokument irgendetwas Neues darstellt. In allen anderen Fragen ist die marxistische Literatur bereits hinreichend ergiebig.

Die Kritik an der Dialektik, die Burnham anbringt, ist wirklich nicht neu: sie ist die erste Übung, an die man sich gewöhnen muss, um die Karriere eines Renegaten vom Marxismus einzuschlagen.8 Da er spürt, wo der Schuh drückt, versucht Burnham diese häufig wiederholte Erklärung zu leugnen. Er versucht zu zeigen, dass das Akzeptieren oder Ablehnen der Dialektik die Gültigkeit der revolutionären Lehren des Marxismus in keiner Weise beeinflusst. Daher verweist er zur Unterstützung seiner These auf die Tatsache, dass die Stalinisten „auch“ an die Dialektik „glauben“. Das ist das Gleichsetzen von Stalinismus und Bolschewismus, übertragen auf das Feld der Philosophie. Das ist hier nicht weniger oberflächlich und reaktionär als in seiner politischen Form. Der Stalinismus ist der Dialektik in Worten verbunden geblieben, wie er es mit vielen Formeln des Bolschewismus getan hat. Doch in der Wirklichkeit hat er sie durch eine zweckdienliche Wortklauberei ersetzt, die nur dazu taugt, alle seine Verbrechen zu rechtfertigen. Wenn Burnham als guter Philister das eine mit dem anderen gleichsetzt, widmet er sich der selben reaktionären Aufgabe wie Norman Thomas.9 Allein die Tatsache, dass die bonapartistische Bürokratie ihren groben Empirismus mit Floskeln verschleiert, die einer ihr grundlegend entgegengesetzten Lehre entrissen sind, sollte ein zusätzlicher Grund sein, sie als eine Kaste anzusehen und nicht als eine Klasse, die ihre Kultur in einer vollendeten Form ausdrückt.

Wenn er auch einem alten Weg folgt, hat Burnham doch eine Neuerung in dem, was er als Ersatz für die Dialektik vorschlägt. Die Kritiker des Marxismus haben sich im Allgemeinen an Kant geklammert – er ist die sicherste Aktie an der philosophischen Börse. Einige von ihnen haben jüngst Zuflucht beim Pragmatismus gesucht. Burnham, der modernste und „wissenschaftlichste“ von allen, entdeckt die symbolische Logik. Die Wahl ist keineswegs glücklicher; sie entblößt eine wohlbekannte Tatsache: Die formale Logik behält eine Macht über das kleinbürgerliche Denken, der alle Launen ihres Schicksals nichts anhaben konnten. Insofern es eine neue Veranschaulichung dieser Tatsache bietet, besitzt Burnhams Dokument einen wissenschaftlichen Wert, den sein Autor nicht vorhergesehen hat.

17. März 1940


  1. [James Burnham (1905–1987) war von 1934 bis 1940 Mitglied der trotzkistischen Communist League, später Socialist Workers Party (SWP). Gemeinsam mit Max Shachtman und anderen gehörte er 1939/40 zu einer Fraktion, die die trotzkistische Position der bedingungslosen militärischen Verteidigung der Sowjetunion ablehnte. Nach seinem Bruch mit dem Trotzkismus/Marxismus wurde er zu einem Konservativen und aggressiven Wortführer des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion. Die Auseinandersetzung der Revolutionäre um Trotzki und James Cannon mit Shachtman, Burnham & Co. ist nachzulesen in Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Arbeiterpresse Verlag 2006.]

  2. [Meint wahrscheinlich den Abschnitt „Die Dialektik der gegenwärtigen Situation“ in Trotzki, „Offener Brief an Genosse Burnham, 7. Januar 1940, in Verteidigung des Marxismus, S. 96 – E&P.]

  3. Anti-Dühring, Teil I, Anfang von Kapitel XIII. [In Marx/Engels, Werke, Bd. 20, S. 120f. – E&P.]

  4. [Eigene Übersetzung, da Quelle nicht aufzufinden – E&P.]

  5. [Van Heijenoort gab später, nach seiner feindseligen Abkehr vom Marxismus, eine hoch angesehene Quellensammlung zur Geschichte der mathematischen Logik heraus: From Frege to Gödel: A Source Book in Mathematical Logic, 1879-1931, Harvard University Press 1967 – E&P]

  6. In den letzten Jahren hat eine kleine unorthodoxe Strömung systematisch die Zurückweisung des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten entwickelt. Wir behalten uns eine Untersuchung dieser Strömung, die Burnham nicht einmal erwähnt, für später vor.

  7. [Werke Bd. 6, S. 38–80, Suhrkamp Verlag 1986 – E&P.]

  8. Siehe meinen Artikel „The Algebra of Revolution“ in der Mai-Ausgabe [1940] von Fourth International.

    [Es ist eine Ironie der Geschichte, dass van Heijenoort mit seinem Artikel „Friedrich Engels and Mathematics“, mit dem er 1948 seine Abkehr vom Marxismus besiegelte, den selben Weg ging – E&P.]

  9. [Vielfacher US-Präsidentschaftskandidat der erzreformistischen Sozialistischen Partei der USA, der sich besonders bemühte, seinen „Sozialismus“ vom Kommunismus abzugrenzen. – E&P.]

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