Ergebnisse & Perspektiven des Marxismus

Lenin: Thesen zur nationalen Frage

In den folgenden Thesen1 fasste W. I. Lenin – gemeinsam mit Leo Trotzki Führer der Oktoberrevolution 1917 in Russland – im Juni 1913 das revolutionäre Programm gegen die Unterdrückung und Diskriminierung von Nationen und nationalen Minderheiten zusammen.2

Wenn Lenin in den Thesen von der „Sozialdemokratie“ spricht, war damit noch eine sozialistische Bewegung mit revolutionärem Anspruch gemeint. Der historische Verrat des Großteils der Führer der Zweiten Internationale, die sich 1914 im Ersten Weltkrieg auf die Seite ihrer jeweiligen imperialistischen Bourgeoisie schlugen, führte zur Spaltung zwischen revolutionären Kommunisten einerseits und reformistischen Sozialdemokraten wie SPD und Linkspartei, die den Kapitalismus mitverwalten, andererseits.

Weitere zentrale Schriften Lenins zur „nationalen Frage“ sind:

* * *

  1. Der Paragraph unseres Programms (über die Selbstbestimmung der Nationen) darf nicht anders ausgelegt werden als im Sinne politischer Selbstbestimmung, d.h. des Rechts auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Staates.

  2. Für die Sozialdemokraten Rußlands ist dieser Punkt des sozialdemokratischen Programms absolut unumgänglich.

    1. sowohl allgemein um der Grundprinzipien der Demokratie willen,

    2. als auch deshalb, weil innerhalb der Grenzen Rußlands, und obendrein in seinen Randgebieten, eine Reihe von Nationen mit sehr unterschiedlichen Wirtschafts-, Lebens- und sonstigen Bedingungen leben, die zudem (wie überhaupt alle Nationen Rußlands außer den Großrussen) von der Zarenmonarchie unvorstellbar unterdrückt werden;

    3. schließlich auch deshalb, weil die bürgerlich-demokratische Umgestaltung der Staaten, die überall in der Welt in mehr oder minder starkem Maße zur Bildung von selbständigen Nationalstaaten oder von solchen Staaten geführt hat, die sich aus einander sehr nahestehenden und verwandten Nationalitäten zusammensetzen – weil diese Umgestaltung in ganz Osteuropa (Österreich und Balkan) und in Asien, d.h. in den an Rußland grenzenden Ländern, entweder nicht abgeschlossen ist oder eben erst begonnen hat.

    4. Rußland hat gegenwärtig die rückständigste und reaktionärste Staatsform im Vergleich mit allen umliegenden Ländern, angefangen im Westen mit Österreich, wo sich seit 1867 die Grundlagen der politischen Freiheit und der konstitutionellen Ordnung konsolidiert haben und jetzt auch das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, bis zum republikanischen China im Osten. Deshalb müssen die Sozialdemokraten Rußlands in ihrer gesamten Propaganda auf dem Recht aller Nationalitäten bestehen, einen eigenen Staat zu bilden oder frei den Staat zu wählen, dem sie anzugehören wünschen.

  3. Der Umstand, daß die Sozialdemokratie das Recht aller Nationalitäten auf Selbstbestimmung anerkennt, verlangt von den Sozialdemokraten,

    1. daß sie sich energisch gegen jegliche wie auch immer geartete Gewaltanwendung von Seiten der herrschenden (oder die Mehrheit der Bevölkerung bildenden) Nation gegenüber einer Nation wenden, die sich in staatlicher Hinsicht loszutrennen wünscht;

    2. daß sie fordern, die Frage einer solchen Lostrennung ausschließlich auf Grund einer allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Abstimmung der Bevölkerung des betreffenden Gebiets zu entscheiden;

    3. daß sie einen unermüdlichen Kampf führen gegen die Parteien sowohl der Schwarzhunderter und Oktobristen als auch der bürgerlichen Liberalen („Progressisten“, Kadetten usw.), wo immer diese allgemein die nationale Unterdrückung in irgendeiner Form verteidigen oder dulden oder insbesondere das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung leugnen.

  4. Die Anerkennung des Rechts aller Nationalitäten auf Selbstbestimmung durch die Sozialdemokratie bedeutet keineswegs, daß die Sozialdemokraten darauf verzichten, in jedem einzelnen Fall selbständig einzuschätzen, ob die staatliche Lostrennung dieser oder jener Nation zweckmäßig ist. Im Gegenteil, die Sozialdemokraten sollen gerade eine selbständige Einschätzung geben, wobei sie sowohl die Bedingungen der Entwicklung des Kapitalismus und der Unterdrückung der Proletarier der verschiedenen Nationen durch die vereinigte Bourgeoisie aller Nationalitäten wie auch die allgemeinen Aufgaben der Demokratie, in erster Linie und vor allem aber die Interessen des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus berücksichtigen müssen.

    Von diesem Gesichtspunkt aus ist insbesondere dem folgenden Umstand Rechnung zu tragen. In Rußland gibt es zwei Nationen, die kraft einer ganzen Reihe historischer und kulturgeschichtlicher Bedingungen kulturell am weitesten entwickelt und am stärksten emanzipiert sind und daher am leichtesten und am „natürlichsten“ ihr Recht auf Lostrennung verwirklichen könnten. Das sind Finnland und Polen. Die Erfahrungen der Revolution von 1905 haben gezeigt, daß selbst in diesen beiden Nationen die herrschenden Klassen, die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie, auf den revolutionären Kampf für die Freiheit verzichten und eine Annäherung an die herrschenden Klassen in Rußland und an die Zarenmonarchie suchen aus Furcht vor dem revolutionären Proletariat Finnlands und Polens.

    Deshalb muß die Sozialdemokratie das Proletariat und die werktätigen Klassen aller Nationalitäten aufs energischste davor warnen, sich durch die nationalistischen Losungen „ihrer“ Bourgeoisie betrügen zu lassen, die bemüht ist, mit Hilfe von honigsüßen oder feurigen Reden über das „Vaterland“ das Proletariat zu spalten und seine Aufmerksamkeit von den Machenschaften der Bourgeoisie abzulenken, die sich sowohl ökonomisch wie auch politisch mit der Bourgeoisie anderer Nationen und mit der Zarenmonarchie verbündet.

    Ohne ein enges und festes Bündnis der Arbeiter aller Nationen in ausnahmslos allen Arbeiterorganisationen kann das Proletariat nicht den Kampf für den Sozialismus führen und seine tagtäglichen wirtschaftlichen Interessen verteidigen.

    Das Proletariat kann die Freiheit nicht anders erringen als durch den revolutionären Kampf für den Sturz der Zarenmonarchie und für deren Ersetzung durch die demokratische Republik. Die Zarenmonarchie schließt Freiheit und Gleichberechtigung der Nationalitäten aus und ist darüber hinaus für Europa wie für Asien das Hauptbollwerk der Barbarei, der Bestialität und der Reaktion. Zum Sturz dieser Monarchie ist aber nur das vereinigte Proletariat aller Nationen Rußlands imstande, das sich an die Spitze der konsequent demokratischen und zum revolutionären Kampf fähigen Elemente der werktätigen Massen aus allen Nationen stellt.

    Deshalb handelt der Arbeiter, der die politische Einigung mit der Bourgeoisie „seiner“ Nation höher stellt als die feste Einheit mit den Proletariern aller Nationen, seinen eigenen Interessen, den Interessen des Sozialismus und den Interessen der Demokratie zuwider.

  5. Die Sozialdemokratie, die sich für eine konsequent demokratische Staatsform einsetzt, fordert die unbedingte Gleichberechtigung der Nationalitäten und kämpft gegen jedes wie auch immer geartete Privileg zugunsten einer oder mehrerer Nationalitäten.

    Insbesondere lehnt die Sozialdemokratie eine „Staats“sprache ab. In Rußland ist eine solche besonders überflüssig, denn über sieben Zehntel der Bevölkerung Rußlands gehören verwandten slawischen Stämmen an, die beim Vorhandensein einer freien Schule in einem freien Staat, auf Grund der Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs, ohne irgendein „staatliches“ Privileg für eine der Sprachen leicht Verständigungsmöglichkeiten fänden.

    Die Sozialdemokratie fordert die Ersetzung der alten, von den fronherrlichen Gutsbesitzern und den Beamten des absolutistisch-fronherrschaftlichen Staates vorgenommenen administrativen Einteilung Rußlands durch eine Einteilung, die den Erfordernissen des modernen Wirtschaftslebens gerecht wird und nach Möglichkeit der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung entspricht.

    Alle Gebiete des Staates, die sich durch besondere Lebensbedingungen oder durch die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung unterscheiden, müssen eine weitgehende Selbstverwaltung und Autonomie genießen und über Institutionen verfügen, die aus allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen sind.

  6. Die Sozialdemokratie fordert den Erlaß eines im ganzen Staat gültigen Gesetzes zum Schutz der Rechte aller nationalen Minderheiten, unabhängig davon, in welchem Teil des Landes sie leben. Nach diesem Gesetz muß jede Maßnahme, mit deren Hilfe eine nationale Mehrheit versuchen sollte, sich nationale Vorrechte zu verschaffen oder die Rechte einer nationalen Minderheit zu schmälern (sei es auf dem Gebiet des Schulwesens, des Gebrauchs dieser oder jener Sprache, in Budgetangelegenheiten usw.), außer Kraft gesetzt und die Durchführung einer solchen Maßnahme bei Strafe verboten werden.

  7. Die Sozialdemokratie lehnt die Losung der „national-kulturellen“ (oder einfach „nationalen“) „Autonomie“ und die Projekte zu ihrer Verwirklichung ab, denn 1. widerspricht diese Losung ganz und gar dem Internationalismus des proletarischen Klassenkampfes, 2. erleichtert sie die Einbeziehung des Proletariats und der werktätigen Massen in die Einflußsphäre der Ideen des bürgerlichen Nationalismus, 3. kann sie von der Aufgabe konsequent demokratischer Umgestaltungen des Staates insgesamt ablenken, während allein derartige Umgestaltungen den nationalen Frieden gewährleisten (soweit dies im Kapitalismus überhaupt möglich ist).

    Da sich die Frage der national-kulturellen Autonomie unter den Sozialdemokraten besonders zugespitzt hat, geben wir einige Erläuterungen zu dieser These.

    1. Vom Standpunkt der Sozialdemokratie ist es unzulässig, direkt oder indirekt die Losung der nationalen Kultur aufzustellen. Diese Losung ist nicht richtig, denn das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der Menschheit wird schon im Kapitalismus immer mehr internationalisiert. Der Sozialismus internationalisiert es vollends. Die internationale Kultur, die schon jetzt systematisch vom Proletariat aller Länder geschaffen wird, nimmt nicht die „nationale Kultur“ (irgendeiner nationalen Gemeinschaft) als Ganzes in sich auf, sondern entnimmt jeder nationalen Kultur ausschließlich ihre konsequent demokratischen und sozialistischen Elemente.

    2. Das wahrscheinlich einzige Beispiel einer wenn auch zaghaften Annäherung an die Losung der nationalen Kultur in den Programmen der Sozialdemokratie bildet der Paragraph 3 des Brünner Programms der österreichischen Sozialdemokratie. Dieser Paragraph 3 lautet: „Sämtliche Selbstverwaltungsgebiete einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt.“

      Das ist eine Kompromißlosung, denn sie enthält nicht die Spur exterritorialer (personaler) nationaler Autonomie. Aber auch diese Losung ist falsch und schädlich, denn es ist keineswegs Sache der Sozialdemokraten Rußlands, die Deutschen in Lodz, Riga, Petersburg und Saratow zu einer Nation zu vereinigen. Unsere Sache ist es, für vollständigen Demokratismus und für die Abschaffung aller nationalen Privilegien zu kämpfen, damit sich die deutschen Arbeiter in Rußland mit den Arbeitern aller übrigen Nationen zur Verteidigung und Entwicklung der internationalen Kultur des Sozialismus vereinigen.

      Um so fehlerhafter ist die Losung der exterritorialen (personalen) nationalen Autonomie mit (nach dem Plan der konsequenten Verfechter dieser Losung) zu gründenden nationalen Parlamenten und nationalen Staatssekretären (O. Bauer und K. Renner). Derartige, allen wirtschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Länder widersprechende, in keinem demokratischen Staat der Welt erprobte Institutionen sind ein opportunistisches Traumgebilde von Leuten, die die Hoffnung auf Bildung konsequent demokratischer Institutionen verloren haben und vor dem nationalen Hader der Bourgeoisie darin Rettung suchen, daß sich sowohl das Proletariat als auch die Bourgeoisie jeder Nation in einigen („kulturellen“) Fragen künstlich absondern.

      Die Verhältnisse zwingen die Sozialdemokraten bisweilen zu einer zeitweisen Unterordnung unter diese oder jene Kompromißlösung, aber von anderen Ländern entlehnen dürfen wir nicht Kompromißlösungen, sondern nur konsequent sozialdemokratische Lösungen. Den mißratenen österreichischen Kompromißversuch gar zu entlehnen, ist um so törichter jetzt, da er auch in Österreich ein vollständiges Fiasko erlitten und zum Separatismus und zur Abspaltung der tschechischen Sozialdemokraten geführt hat.

    3. Die Geschichte der Losung der „national-kulturellen Autonomie“ in Rußland zeigt, daß sie von ausnahmslos allen bürgerlichen jüdischen Parteien, und nur von den jüdischen, aufgegriffen wurde, denen kritiklos der „Bund“ hinterhertrottete, der jedoch inkonsequenterweise ein national-jüdisches Parlament (Sejm) und national-jüdische Staatssekretäre ablehnte. Indessen geben selbst diejenigen europäischen Sozialdemokraten, die die Kompromißlosung der national-kulturellen Autonomie tolerieren oder verteidigen, zu, daß diese Losung für die Juden völlig unrealisierbar ist (O. Bauer und K. Kautsky). „Die Juden in Galizien und in Rußland sind eher eine Kaste als eine Nation, und die Versuche, das Judentum als Nation aufrechtzuhalten, sind tatsächlich nur Versuche, seine Existenz als besondere Kaste fortzufristen.“ (K. Kautsky.)

    4. In zivilisierten Ländern beobachten wir eine (verhältnismäßig) ziemlich weitgehende Annäherung an den nationalen Frieden im Kapitalismus nur dort, wo der Demokratismus in der gesamten staatlichen Organisation und Verwaltung maximal verwirklicht ist (Schweiz). Die Losungen des konsequenten Demokratismus (Republik, Miliz, Wählbarkeit der Beamten durch das Volk usw.) vereinigen das Proletariat und die werktätigen Massen und überhaupt alles Fortschrittliche in jeder Nation zum Kampf für Verhältnisse, die auch das geringste nationale Privileg unmöglich machen – während die Losung der „national-kulturellen Autonomie“ die Absonderung der Nation im Schulwesen (oder in „kulturellen“ Angelegenheiten überhaupt) propagiert, eine Absonderung, die sich mit der Aufrechterhaltung der Grundlagen aller möglichen (darunter auch nationaler) Privilegien durchaus verträgt.

      Die Losungen des konsequenten Demokratismus schließen das Proletariat und die fortschrittliche Demokratie aller Nationen zusammen (die Elemente, denen nicht Absonderung not tut, sondern Vereinigung der demokratischen Elemente der Nationen in allen Angelegenheiten, darunter auch im Schulwesen) – die Losung der national-kulturellen Autonomie aber entzweit das Proletariat der verschiedenen Nationen und bindet es an die reaktionären und bürgerlichen Elemente der einzelnen Nationen.

      Die Losungen des konsequenten Demokratismus stoßen bei den Reaktionären wie bei der konterrevolutionären Bourgeoisie aller Nationen auf unversöhnliche Feindschaft – die Losung der national-kulturellen Autonomie aber ist für die Reaktionäre und konterrevolutionären Bourgeois einiger Nationen durchaus annehmbar.

  8. Die Gesamtheit der ökonomischen und politischen Verhältnisse Rußlands verlangt also unbedingt von der Sozialdemokratie den Zusammenschluß der Arbeiter aller Nationalitäten in ausnahmslos allen proletarischen Organisationen (den politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, den Bildungsorganisationen usw. usf.). Nicht Föderation im Parteiaufbau, nicht Bildung nationaler sozialdemokratischer Gruppen, sondern Einheit der Proletarier aller Nationen in jedem Ort. Dabei soll die Propaganda und Agitation in allen Sprachen des in den betreffenden Orten lebenden Proletariats betrieben, der Kampf der Arbeiter aller Nationen gegen nationale Privilegien gleich welcher Art gemeinsam geführt werden, sollen die örtlichen und Gebietsorganisationen der Partei Autonomie genießen.

  9. Die mehr als zehnjährigen Erfahrungen der Geschichte der SDAPR bekräftigen die oben dargelegten Thesen. Die Partei entsteht 1898 als Partei „Rußlands“, d. h. als Partei des Proletariats aller Nationalitäten Rußlands. Sie bleibt eine Partei „Rußlands“, als der „Bund“ 1903 aus der Partei austritt, nachdem der Parteitag die Forderung des „Bund“, ihn als einzigen Vertreter des jüdischen Proletariats anzuerkennen, abgelehnt hat. In den Jahren 1906–1907 zeigt das Leben vollends die Haltlosigkeit dieser Forderung, zahlreiche jüdische Proletarier setzen in einer Reihe von örtlichen Organisationen einträchtig die gemeinsame sozialdemokratische Arbeit fort, und der „Bund“ kehrt in die Partei zurück. Der Stockholmer Parteitag (1906) vereinigt sowohl die polnischen als auch die lettischen Sozialdemokraten, die auf dem Boden der territorialen Autonomie stehen, wobei der Parteitag das Prinzip der Föderation nicht akzeptiert und die Vereinigung der Sozialdemokraten aller Nationalitäten an den einzelnen Orten verlangt. Dies Prinzip wird seit Jahren im Kaukasus befolgt, es wird in Warschau befolgt (polnische Arbeiter und russische Soldaten), in Wilna (polnische, lettische, jüdische, litauische Arbeiter), in Riga; in den drei letztgenannten Zentren wird es gegen den „Bund“ eingehalten, der sich separatistisch abgespalten hat. Im Dezember 1908 nimmt die SDAPR auf ihrer Konferenz eine spezielle Resolution an, in der die Forderung nach Einheit der Arbeiter aller Nationalitäten nicht nach dem Prinzip der Föderation bekräftigt wird. Die spalterische Nichtdurchführung des Parteibeschlusses durch die bundistischen Separatisten führt zum Zusammenbruch dieser ganzen „Föderation schlimmsten Typs“8 – bringt die Separatisten des „Bund“ den tschechischen Separatisten näher und umgekehrt (siehe Kossowski in „Nascha Sarja“ und das Organ der tschechischen Separatisten, „Der Cechoslavische Sozialdemokrat“, 1913, Nr. 3, über Kossowski) – und führt schließlich (1912) auf der Augustkonferenz der Liquidatoren zu dem gemeinsamen Versuch der bundistischen Separatisten und Liquidatoren und eines Teils der kaukasischen Liquidatoren, die „national-kulturelle Autonomie“ still und heimlich in das Parteiprogramm zu schmuggeln, ohne sie prinzipiell zu verteidigen!

    Die revolutionären sozialdemokratischen Arbeiter sowohl Polens als auch Lettlands und des Kaukasus vertreten nach wie vor den Standpunkt der territorialen Autonomie und der Einheit der sozialdemokratischen Arbeiter aller Nationen. Die Abspaltung des „Bund“ und der Liquidatoren und das Bündnis des „Bund“ mit Nichtsozialdemokraten in Warschau setzt die nationale Frage als Ganzes, in ihrer theoretischen Bedeutung wie auch in ihrer Bedeutung für den Aufbau der Partei, für alle Sozialdemokraten auf die Tagesordnung.

    Die Kompromißlösungen wurden gerade von denjenigen verletzt, die sie gegen den Willen der Partei durchsetzten, und die Forderung nach Einheit der sozialdemokratischen Arbeiter aller Nationalitäten ertönt lauter denn je.

  10. Der brutal-streitbare erzreaktionäre Nationalismus der Zarenmonarchie, ferner das Wiederaufleben des bürgerlichen Nationalismus – sowohl des großrussischen (Herr Struve, „Russkaja Molwa“,9 die „Progressisten“ usw.) als auch des ukrainischen, des polnischen (der Antisemitismus der National„demokratie“10) als auch des georgischen, des armenischen usw. –, all dies verlangt mit besonderer Dringlichkeit von den sozialdemokratischen Organisationen in allen Teilen Rußlands, daß sie der nationalen Frage mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher und – im Geiste eines konsequenten Internationalismus und der Einheit der Proletarier aller Nationen – konsequent marxistische Lösungen dieser Frage ausarbeiten.

  1. Die Losung der nationalen Kultur ist nicht richtig und bringt lediglich die bürgerliche Beschränktheit in der Auffassung der nationalen Frage zum Ausdruck. Internationale Kultur.

  2. Verewigung der nationalen Trennung und Praktizieren eines verfeinerten Nationalismus – Vereinigung, Annäherung, Vermischung der Nationen und Ausdruck der Prinzipien einer anderen, internationalen Kultur.

  3. Verzweiflung des Kleinbürgers (hoffnungsloser Kampf gegen nationalen Hader) sowie Furcht vor radikal-demokratischen Umgestaltungen und vor der sozialistischen Bewegung – nur radikal-demokratische Umgestaltungen können den nationalen Frieden in den kapitalistischen Staaten herstellen, und nur der Sozialismus ist imstande, dem nationalen Hader ein Ende zu machen.

  4. Nationale Kurien im Schulwesen.11

  5. Judentum.

Geschrieben im Juni 1913, vor dem 26. (9. Juli).


  1. Siehe Lenin, Werke, Bd. 19, S. 233–241.

  2. „Die ‚Thesen zur nationalen Frage“ schrieb Lenin in Verbindung mit den Referaten zur nationalen Frage, die er am 9., 10., 11. und 13. Juli 1913 in folgenden Städten der Schweiz hielt: Zürich, Genf, Lausanne und Bern. In den Lenin-Sammelbänden XVII und XXX sind veröffentlicht: ein Plan des Referats, Notizen zum Plan und ausführliche Aufzeichnungen über die Diskussionen zu diesen Referaten. Lenin erwähnt diese Referate in seinem Brief an S. G. Schaumian. (Siehe den vorliegenden Band, S. 496.)“ (Anmerkung 67 aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 570 – E&P.)

  3. Lenin, Werke, Bd. 20, S. 1–37.

  4. Lenin, Werke, Bd. 20, S. 395–461.

  5. Lenin, Werke, Bd.22, S.144–159.

  6. Lenin, Werke, Bd.22,S. 326–368.

  7. Lenin, Werke, Bd. 23, S. 18–71.

  8. „‚Föderation schlimmsten Typs‘ – so wurden in den Beschlüssen der Prager Konferenz 1912 die Beziehungen der nationalen sozialdemokratischen Organisationen zur Gesamtpartei, wie sie in der SDAPR von 1907 bis 1911 bestanden, charakterisiert. Ungeachtet dessen, daß die sozialdemokratischen Organisationen Polens, Litauens und Lettlands sowie der ‚Bund‘ der SDAPR angehörten, hielten sie sich faktisch gesondert. Ihre Vertreter beteiligten sich nicht an der Leitung der gesamtrussischen Parteiarbeit; sie unterstützten direkt oder indirekt die parteifeindliche Tätigkeit der Liquidatoren. (Siehe darüber Werke, Bd. 17, S. 455/456, und Bd. 18, S. 404/405.)“ (Anmerkung 68 aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 571 – E&P.

  9. Russkaja Molwa‘ (Russische Stimme) – Tageszeitung, Organ der bürgerlichen Partei der ‚Progressisten‘, die 1912 gegründet wurde. Lenin nannte diese Partei ein Mittelding zwischen Oktobristen und Kadetten. Die Zeitung erschien in Petersburg von 1912 bis 1913.“ (Anmerkung 69 aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 571 – E&P.)

  10. Narodowa Demokracja (Nationaldemokratie, Narodowzen) – reaktionäre, chauvinistische Partei der polnischen Gutsbesitzer und Bourgeoisie; gegründet 1897. Unter der Losung der ‚Klassenharmonie‘ und der ‚nationalen Interessen‘ waren die Narodowzen bestrebt, die Volksmassen unter ihren Einfluß zu bringen und sie für ihre reaktionäre Politik zu gewinnen. Während der Revolution von 1905–1907 wurden die Narodowzen zur Hauptpartei der polnischen Konterrevolution, zu polnischen Schwarzhundertern, wie Lenin sie nannte. In der Reichsduma unterstützten sie die Oktobristen. 1919 gab sich die Nationaldemokratie den neuen Namen ‚Nationale Volksunion‘ (‚Związek Ludowo-Narodowy‘), und von 1928 an nannte sie sich ‚Nationalpartei‘ (‚Stronnictwo Narodowe‘). Nach dem zweiten Weltkrieg schlossen sich die nationaldemokratischen Elemente, die keine eigene Partei hatten, der reaktionären Partei Mikolajczyks, der ‚Polnischen Volkspartei‘ (‚Polske Stronnictwo Ludowe‘) an.“ (Anmerkung 70 aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 571 – E&P.)

  11. „Gemeint ist die Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten, die Hauptforderung des bürgerlich-nationalistischen Programms der ‚national-kulturellen Autonomie‘.“ (Anmerkung 71 aus Lenin, Werke, Bd. 19, S. 571 – E&P.)

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